Ein Schwarm Schmetterlinge

Ich habe Prof. Kimberlé Crenshaw 2012 an der Columbia University kennengelernt. Sie wurde mir von einer Freundin und Kollegin vorgestellt, die bei ihr studiert hatte, kurz bevor ich als Gastwissenschaftlerin zu einem Forschungsaufenthalt nach New York aufbrach. Mein Projekt war minutiös geplant: Ich hatte mich bereits in die Kurse, die ich belegen wollte, eingeschrieben; den konzeptionellen und analytischen Rahmen meiner Doktorarbeit hatte ich fertig skizziert und den Zeitrahmen mit meiner Betreuerin an der Columbia University abgestimmt. Meine Begegnung mit Kimberlé Crenshaw hebelte meine Pläne jedoch aus. Ohne zu überlegen, fasste ich den Entschluss, mich Kopf über in den neuen theoretischen Ansatz zu stürzen, der sich vor mir auftat.

Prof. Crenshaw willigte ein, meine Betreuerin zu werden, und so ließ ich alle anderen Kurse, für die ich mich eingeschrieben hatte, fallen, um mich ausschließlich und mit voller Aufmerksamkeit – und mit Herz und Seele – den zwei Kursen zu widmen, die sie im Herbstsemester 2012 unterrichtete: „Intersektionalitäten“ und „Critical Race Theory“. Ich war im Handumdrehen fasziniert von ihren Vorlesungen, und meine Neugier verwandelte sich in einen unersättlichen Drang, sämtliche Knoten und Rätsel, die in meinem Kopf umherschwirrten, zu entwirren, aufzudecken und zu lösen. Der weiße, eurozentrische Studienplan, der dem Studium an deutschen, britischen und französischen Universitäten zugrunde lag, hatte mir nicht die Antworten gegeben, nach denen ich suchte. Bestenfalls hatte er dazu geführt, dass ich mich fehl am Platz fühlte; schlimmstenfalls hatte er ein tiefes Unbehagen in mir ausgelöst.

Im Rahmen meines Jura- und Staatswissenschaftsstudiums hatte ich nichts von postkolonialen, feministischen und anderen kritischen Studien gehört. Die Monate vor meinem Forschungsaufenthalt hatten den Boden für die Kurse von Prof. Crenshaw bereitet: Ich war dabei, dekoloniale Denkweisen, Queerfeminismus und kritische Rechtsstudien kennenzulernen. Ich hatte die bahnbrechenden Arbeiten von Prof. Crenshaw vor meiner Zeit an der Columbia University gelesen, aber niemals hätte ich die tiefgreifenden Auswirkungen, welche diese auf mein privates und berufliches Leben haben würden, vorhersehen können. Diese Entscheidung veränderte den Verlauf meiner Forschung grundlegend und bereicherte sie in einem Maße, das ich mir vorher nicht hätte träumen lassen. Ihre Arbeit förderte mein kritisches Denken, stärkte meine theoretischen Argumente, vertiefte mein akademisches Wissen zum Thema Feminismus, Antirassismus, Intersektionalität und – was wahrscheinlich am allerwichtigsten war – stellte einen analytischen Rahmen bereit, um meine politische Identität zu verstehen und zu artikulieren.

Ich wurde am Stadtrand von Paris geboren; mein Vater ist ein sephardischer und aschkenasischer Jude aus Algerien, meine Mutter stammt aus Martinique, und wenn man meine Queerness noch dazu nimmt, hat meine vieldeutige Identität eigentlich nie irgendwo hineingepasst. Aber endlich gab es ein Wort dafür: Intersektionalität! Das Konzept ging über die individuelle Ebene hinaus und setzte gewaltiges Potential auf politisch-struktureller Ebene frei: Diejenigen von uns, die sich an den Kreuzungspunkten („Intersections“) verschiedener Ungleichheits- und Unterdrückungssysteme befanden, ließen sich nun sichtbar 53 machen und konnten endlich aus dem rechtlichen und diskursiven Vakuum heraustreten.

Überaus gewissenhaft hatte ich den Lehrplan studiert, und voller Eifer betrat ich den Unterrichtsraum, um den Einführungstext zu besprechen, als ich zum ersten Mal in meinem Leben einer Mehrheit von anderen Schwarzen Frauen* gegenübersaß und wir von einer unfassbar charismatischen und inspirierenden Schwarzen Frau* unterrichtet wurden. Es fällt mir schwer, den wahrhaft gewaltigen, ermutigenden Effekt zu beschreiben, den das Ganze auf mich hatte, daher bemühe ich die Worte von Rupi Kaur:

Repräsentation
ist überlebenswichtig
sonst kann sich der Schmetterling
von einer Gruppe Motten umgeben
nicht selbst sehen
und wird versuchen, selbst eine Motte zu werden
– Repräsentation
Rupi Kaur, Die Blüten der Sonne

Ich war von Schmetterlingen umgeben – eine überwältigende Erfahrung. Abgesehen von dem selbstverständlich faszinierenden Inhalt der Kurse bereitete die Atmosphäre, in der die Linien zwischen Privatem und Politischem verschwammen, den Boden für aufschlussreiche und bewusstseinserweiternde Gespräche zwischen Menschen, die an der Schnittstelle von multiplen Identitäten lebten.

Der Forschungsaufenthalt an der Columbia University veränderte meine Doktorarbeit und mein Leben grundlegend. Ich war aus der Matrix herausgetreten; ein Zurück war unmöglich. So unbehaglich es auch sein mochte – meine Randposition hatte auch seine guten Seiten: das Privileg nämlich, das engmaschige Gefüge des imperialistischen, kapitalistischen, weißen Vorherrschaftspatriarchats zu de54 konstruieren (um mit den Worten von bell hooks zu sprechen); die Kapazität, ein anderes Narrativ zu artikulieren, das meine Existenz und Sichtweise reflektiert; die Fähigkeit, bestehende Bezugssysteme zu überdenken und neue zu schaffen; und schließlich das reine Glück, einer globalen Gemeinschaft von Aktivist*innen, Denker*innen, Künstler* innen und Anhänger*innen anzugehören in einer Welt, die frei von systemischer Unterdrückung ist.

Vier Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Kimberlé Crenshaw trafen wir uns im November 2016 erneut in Paris. Wie es das Schicksal so wollte, sprachen wir auf derselben Konferenz an der Sciences Po Paris. Einige Wochen vorher hatte sich ein Gedanke in mir festgesetzt: Ich würde eine Advocacy-Organisation gründen mit dem Ziel, das Konzept der Intersektionalität in Europa weiterzubringen. Beim Abendessen brachte ich die Idee zur Sprache und fragte Kimberlé Crenshaw ganz unverblümt, ob sie die Präsidentin dieser zukünftigen, noch namenlosen Organisation werden wollen würde. Sie sagte zu.

Als ich begriff, wie unglaublich glücklich wir waren, Kimberlé Crenshaw mit an Bord zu haben, gab ich meine Stelle auf und stürzte mich voller Leidenschaft in das Projekt. Sechs Monate später wurde das Center for Intersectional Justice (CIJ) geboren. Es war eine instinktive und leichte Geburt, das natürliche Ergebnis meines politischen Aufbruchs. Entstanden war ein Ort zur Durchsetzung unserer Vision von Intersektionalität, an dem es möglich war, neu in das Konzept zu investieren, seine subversiven Potentiale durch rebellische Praktiken neu aufzubauen und die klaffenden Lücken zu schließen, welche die Intersektionalität auf ihrem Weg von Nordamerika nach Europa geschwächt hatten. Und vielleicht werden wir irgendwann sogar so weit gehen, Teile des Konzepts neu zu erfinden. Genau das ist die Gabe von Kimberlé Crenshaw: Den Menschen am gesellschaftlichen Rand ein Instrument an die Hand zu geben, das sie gemeinschaftlich kultivieren, anpassen, umformen und entwickeln können.

Durch ihr bedingungsloses Vertrauen, ihren gescheiten Rat und ihre dezente Lenkung ist Kim von Anfang an eine Mentorin und unglaubliche Quelle der Inspiration für mich gewesen.